Digitale Mythen – analoge Wahrheiten
In der Welt der digitalen Werbung kursieren viele Halbwahrheiten. Gemeinsam mit Marketingberater und Digitalexperte Christian Bachem geht der Einser den hartnäckigsten Digital-Mythen auf den Grund und zeigt die Auswirkungen – nicht nur auf Mediaplanung und Werbewirkung.
September 2022,
Text: Florian Allgayer, W&V Edition No. 2
Das erste Werbebanner der Digitalgeschichte war im Jahr 1994 ein Werbemittel von AT&T auf hotwired.com. Die Anzeige erreichte eine unvorstellbare Klickrate von über 30 Prozent. Damit war eine Erwartungshaltung im Markt gesetzt: dass digitale Werbung verlässlich hohe Response-Raten generiert. Die Wahrheit sieht indes anders aus: Heute erzielen Online-Werbemittel Klickraten von unter 1 Prozent, faktisch liegen die meisten bei 0,1 Prozent. Das heißt: Nur jeder tausendste Nutzer klickt auf ein Standard-Online-Werbemittel. Die angeblich so hohe Wirksamkeit von Digital ist eine von zahlreichen Fehleinschätzungen, die sich seit vielen Jahren hartnäckig halten, sagt Christian Bachem, Marketingberater und Digitalexperte der ersten Stunde, unter anderem als Managing Director bei Pixelpark, heute Geschäftsführender Gesellschafter des Beratungsunternehmens Markendienst Berlin. Viele Halbwahrheiten und Ungenauigkeiten kursieren in der Branche - und folgende vier digitale Mythen begegnen Bachem besonders häufig.
Mythos Nr. 1: Digital ist durchgängig messbar.
Tatsächlich ist Online das am einfachsten messbare Medium - schließlich verfügt es als einziges Medium über eine eingebaute Messung. Ideale Voraussetzungen also für die Erfolgsmessung? „Eher nicht. Die Unmenge ,kostenlos' verfügbarer Online-Daten hat zu Intransparenz, mangelnder Vergleichbarkeit und Fehlsteuerungen geführt", beobachtet Bachem. Online-Kennzahlen sind oftmals willkürlich definiert und zum Teil veraltet. So wurden beispielsweise die Basiskennzahlen Page Impressions und Visits bereits im Jahr 1997 eingeführt.
Die mangelnde Vergleichbarkeit wird besonders deutlich, wenn man einen Blick auf die Kennzahlen der sogenannten „Walled Gardens" wirft, also auf die abgeschlossenen Welten von Google, Facebook oder Amazon. Hier gibt es zum Teil Kennzahlen gleichen Namens, die aber je nach Anbieter unterschiedliche Sachverhalte messen. Andererseits tragen Kennzahlen oft unterschiedliche Namen, obwohl sie identische Dinge messen Die mächtigen Plattformen setzen eigene Regeln und Kennzahlen - oder ändern sie willkürlich. Kontrollmöglichkeiten für Externe? Unmöglich. Ein weiteres Problem ist der Umgang mit Daten, so Bachem: »Immer wieder hat Facebook in der Vergangenheit zugeben müssen, Daten falsch ausgewertet oder schlichtweg verschlampt zu haben."
Mythos Nr. 2: Was klickt, wirkt.
Wie erwähnt, schafft digitale Werbung in den allermeisten Fällen nur sehr geringe Resonanz. Hinzu kommt: Die Neigung, sich von einem Online-Werbemittel aktivieren zulassen, ist in der Bevölkerung ungleich verteilt. 52 Prozent der Nutzer klicken eher selten, 28 Prozent klicken nie auf Online-Werbung, so eine PwC-Untersuchung. Nur wenige reagieren also überhaupt auf Online-Werbung. Und wer sind diese Nutzer? „Wir wissen, dass dies meist Menschen sind, die viel Zeit, aber wenig Kaufkraft haben – also nicht gerade die begehrten Zielgruppen“,verdeutlicht Bachem.
Falsch eingeschätzt wird häufig auch derZusammenhang zwischen Online-Klicks undMarkenwirkung. „Klicks zahlen nicht auf dieMarke ein, das hat unter anderem eineUntersuchung von Nielsen gezeigt – was insofern paradox ist, weil ein Klick ja dazu führt, dass man sich mit einem Werbemittel auseinandersetzt“, sagt Christian Bachem.
Mythos Nr. 3: Digitale Werbung ist äußerst zielgenau.
Wer online Nutzerprofile bilden, Targeting-Strategien verfolgen undKontaktfrequenzen aussteuern will, brauchtCookies. „Das Problem: Cookies haben sich schon lange verkrümelt“, erklärt Bachem.„Bereits vor fünf Jahren wurde das Gros derCookies von Nutzern, Browsern oderEndgeräten blockiert oder gelöscht.“ 75Prozent der Smartphone-Nutzer und sogar80 Prozent der Tablet-Nutzer blockierten damals schon Cookies. Die Cookie-Blockaden und -Löschungen führen zu teils massiven Verzerrungen bei der Bewertung und Steuerung von Kampagnen. DennCookie-Löscher werden bei der Ausspielung digitaler Werbemittel immer wieder als neueNutzer betrachtet. Die Folge: Die Reichweite wird massiv überschätzt, zum Teil zu über 90Prozent. Gleichzeitig passiert eine drastischeUnterschätzung der Kontaktfrequenz. Wer nämlich mit seiner Kampagne dieselbenNutzer, nur weil sie Cookies löschen, mehrmals anspricht, wird daraus schließen, er habe immer wieder neue Nutzer angesprochen – und zwar mit weniger Kontakten.„Das zeigt: Digitale Werbung basiert auf derIllusion von Präzision“, betont Media- undMarketingexperte Bachem.
Aber auch ohne „Cookie-Mortalität“ istTargeting notorisch unpräzise. Die meistenCookie-basierten Nutzerprofile sind aufgrund ihrer schlechten Datenqualität für Targeting unbrauchbar. Zumal die Genauigkeit der Ansprache mit jedem zusätzlichen Zielgruppenparameter (zum Beispiel Geschlecht UND Alter) nachlässt, da sich die jeweiligen Streuverluste multiplizieren.
Mythos Nr. 4: Digital ist besser.
VonAnfang an waren viele positive Erwartungen an die algorithmische Echtzeitbewirtschaftung von digitalem Werbe-Inventar geknüpft. Automatisiert, effizient, transparent, lukrativ: Programmatic Advertising gilt als digitales Allheilmittel aus dem Labor. Mit welchen Konsequenzen? Ein paar Zahlen:Inzwischen werden 70 Prozent der Display-Buchungen in Deutschland programmatisch gehandelt. Täglich erfolgen etwa 85 Milliarden Bid Requests, technische Anfragen zumAushandeln programmatischer Werbeeinblendungen, auf digitales Werbeinventar inEuropa – also mehrere hundert pro Einwohner. Und der Datenhunger der Online-Werbeindustrie ist so groß, dass sie bereits 72Millionen Datenpunkte von einem Kind gesammelt hat, bevor es 13 Jahre alt wird.Die Realität von Programmatic sieht aber so aus, dass ein Großteil der Werbe-Investitionen im Ökosystem Digital allein dafür aufgewendet wird, um es zu betreiben. Agenturen und Technikspezialisten verlangen ihrenAnteil am Budget, ebenso Ad Verification-Dienstleister, die man nur dafür benötigt, um technisch nachvollziehen zu können, ob die gebuchte Werbung tatsächlich erbracht wurde. Mediageld versickert aber auch wegen nicht existentem oder nicht „menschlichem“Traffic, sogenannter Bots. Und weil Werbung für viele Nutzer unsichtbar bleibt oder nicht„brand safe“ ausgespielt wird.
Ein weiteres immenses Problem von Digitalwerbung ist Ad Fraud, betrügerischeMaßnahmen, wodurch die vom Kundenbeauftragte und bezahlte Werbeleistung nur vorgetäuscht wird. Jährlich gelangen dadurch viele Milliarden an Werbegeldern in kriminelle Hände. Schließlich finanzierenMarken durch Programmatic ungewollt auch extremistische oder gar terroristischeUmfelder und demokratiefeindliche Aktivitäten in sozialen Netzwerken. „DigitaleWerbung unterwandert auf diese Weise dieDemokratie“, warnt Bachem.
Angesichts dieser vielfältigen Gefahren empfiehlt Christian Bachem den Werbung-treibenden, das Heft selbst in die Hand zunehmen: „Unternehmen sollten sich überStudien, Analysen, ökonometrische Modellierungen und über eigene Kompetenzunabhängig machen von Desinformationen und vermeintlichen Fakten der Online-Werbeindustrie und selbst für Transparenz sorgen, Datenhoheit erlangen“. Bei manchen sei diese Erkenntnis schon zu spüren, so derDigitalexperte – viele Unternehmen aber lassen sich nach wie vor von digitalenMythen in eine Scheinwelt beamen.
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