NEWS

Mediamix wird zum Stressfaktor

STRATEGIE: Weil Mediennutzung und -angebot zersplittern, wird es schwerer, den passenden Mediamix zu finden. Experten suchen nach Lösungen.

September 2023

TEXT: Guido Schneider, Horizont 38-39/2023

Man kann fast schon Mitleid haben mit den heutigen Media-und Marketingentscheidern, schließlich wird es immer schwerer, Zielgruppen werblich anzusprechen, weil sich das Publikum auf immer mehr Medien verteilt. Auch die Medienlandschaft selbst ist inzwischen völlig zersplittert. Die Menschen vertreiben sich auf immer mehr Plattformen, in unzähligen Streams und einem immer noch großen Angebot an klassischen Medien ihre Zeit. Wie soll einUnternehmen angesichts dessen den passenden Mediamix finden und sein Budgetoptimal auf die verschiedenen Kanäle verteilen?

Die Frage stellte sich so oder so ähnlich natürlich auch früher schon, doch mit fortschreitender Individualisierung und Digitalisierung erreicht sie eine neue Dimension. „Einen Mediamix zu finden, der eine ausreichend hohe Reichweite und den nötigen Werbedruck erzielt, ist in einer fragmentierten Medienlandschaft zunehmend schwieriger. Insbesondere, wenn es um jüngere Zielgruppen geht“, stellt Christian Bachem, Geschäftsführer des Consulting-Unternehmens Markendienst Berlin, fest. Für Dirk Engel, unabhängiger Medienforscher und Berater, zeigt sich der Wandel der Mediennutzung besonders deutlich beim jungen Publikum. Weil die Jungen zahlenmäßig schrumpfen, sind sie schwerer zu erreichen. „Die Alten hingegen bekommt man leicht und günstig“, so Engel. „Zu glauben, dass der wachsende Anteil der Alten an der Bevölkerung diese zur dominierenden Marketing-Zielgruppe macht, ist falsch. Je weniger Junge es gibt, desto härter wird um sie gekämpft.“

Werbekunden müssen heute aber auch mehr Kanäle bedienen, um auf die gewünschten Reichweiten und Kontaktzahlen zu kommen, denn die durchschnittliche Reichweite pro Medium sinkt immer weiter, so Engel. Der ganze Planungsprozess ist inzwischen so komplex, dass er nur noch automatisiert zu bewältigen ist. Nötig ist das auch deshalb, weil sich die Mediennutzung des Publikums atomisiert hat. „Jeder Mensch hat eine ganz individuelle Mediennutzung, kein Medienmenü gleicht dem anderen“,betont Engel.

Stefan Uhl, Managing Director DACH bei der Media- und Marketingberatung Ebiquity, zieht aus der wachsenden Komplexität den Schluss, dass die Unternehmen selbst Kompetenzen für das Mediageschäft aufbauen müssen, um die Empfehlungen der Mediaagenturen „richtig zu verstehen“ und ihre Produkte kritisch hinterfragen zu können. Einweiteres Problem besteht für ihn in den sinkenden Einzelreichweiten. „Daher ist der Mediamix für die Erzielung möglichst hoher Nettoreichweiten in den allermeisten Fällen die richtige Antwort.“ Doch oft ist die Datenlage laut Uhl nicht ausreichend, um den richtigen Mix zu finden, was wiederum daran liegt, dass es bislang keine anerkannte Währung gibt, die möglichst viele Kanäle umfasst. Das stört auch Christian Bachem. Er spricht von einem Hemmschuh, der sich zum „Klotz am Bein der Mediaplanung“ entwickele. „Immerhin ist erkennbar, dass sowohl die AGF als auch die Agma im Rahmen ihrer Möglichkeiten an Lösungen arbeiten, die Mediaplanern wieder mehr Trittsicherheit geben können.“ In den Niederlanden haben sich die Akteure hingegen auf eine„integrierte Messung“ verständigt, die nun eine „faire Beurteilung und einen echten Wettbewerb der Kanäle ermöglicht“, wie Uhl berichtet. Dieses Messverfahren hat aber auch zu heftigen Verschiebungen geführt: „Unter anderem musste das Radioeine Halbierung seiner Reichweiten hinnehmen.“

Doch selbst wenn es eines Tages auch in Deutschland eine alles umfassende Konvention wie in den Niederlanden geben sollte, müssen sich die Mediaverantwortlichen mit der zersplitternden Mediennutzung herumschlagen. Um die Zielgruppen besser ansprechen zu können, fordert Uhl eine engere Abstimmung von Kreation und Media, will aber auch, dass Kunden und Agenturen die Werbemittel besser als bisher an den Ausspielweg und die individuelle Nutzungssituation anpassen. Beides erfordert Mut zu unkonventionellen Lösungen. Als Beispiel nennt der Ebiquity-Manager die Kampagne von Hornbach, die mit der Idee eines Fahndungsplakats gespielt hat. Deren Reichweite fiel womöglich nicht optimal aus, dennoch dürfte die Wirkung sehr gut gewesen sein, mutmaßt Uhl. Andererseits werden für ihn aber angesichts der zerfasernden Mediennutzung und fehlender medienübergreifender Messmethoden die erprobten Mediamix-Modellings wichtiger, weil sie die einzigen Instrumente sind, mit denen sich Wirkungsbeiträge der unterschiedlichen Kanäle identifizieren und die Budgets zielgerichtet allokieren lassen.

Engel glaubt indes, dass eine bessere Automatisierung und klügere KI-Tools das Problem der Fragmentierung lösen können. Doch das ist leichter gefordert als umgesetzt. Wer etwa glaubt, dass intelligente Algorithmen künftig das Budget verteilen können, dem stellen sich beim Blickunter die Motorhaube der entsprechenden Maschinen „mehr Fragen als Antworten“, gibt Engel zu bedenken. Das gilt speziell auch für das Targeting, das vielen als Lösung für das Fragmentierungsproblem gilt, weil es Zielgruppen genauer adressieren und individualisiert ansprechen will. Für Christian Bachem ist das Targeting jedoch „zumeist eine Illusion“: „Die ist allerdings so stark ist, dass sie viele Marketing- und Mediaverantwortliche dazu verleitet hat, mit Wunsch-Zielgruppen zu arbeiten, die oft zu spitz und meistens jünger und attraktiver sind als die tatsächliche Käuferschaft. “Glaubt man dem Media-Crack, dann ist cookiebasiertes Targeting mit Ausnahme des Re-Targetings „systematisch unpräzise, da die verwendeten Nutzerprofile kaum belastbar sind“. Es schneidet daher auch in kontrollierten Tests, die Markendienst im Auftrag seiner Kunden über Jahre hinweg realisiert hat, auf Basis soziodemografischer Daten selten besser ab als eine „zufällige Ausspielung“, so Bachem.

Uhl sieht darüber hinaus bei digitalen Medien das Problem, dass Attributionsmodellings die Wirkung der Marketing-und Vertriebsaktivitäten ausschließlich ihnen zuschreiben, sodass Kunden die Ergebnisse oft falsch einordnen. Erweiterte Attributionsmodellings können dagegen verhindern, dass die Unternehmen zu sehr auf die kurzfristige Conversion in Performance-Kanälen schauen und den oberen Teil des Sales Funnel vernachlässigen, in dem potenziellen Kunden durch Werbung in anderen Kanälen auf ein Produkt aufmerksam werden.

Komplizierter wird die Mediaarbeit aber auch dadurch, dass sich die Mediennutzung zunehmend von den analogen und linearen Angeboten in die digitale On-Demand-Welt verlagert. Vor allem die Reichweiten von Print und TV sind rückläufig, während Streaming und Connected TV deutlich zulegen. Gleichzeitig wandern aber auch immer mehr Nutzerin werbefreie Angebote ab. „Die Verschiebungen sind sehr deutlich in der absoluten Höhe und vollziehen sich mit einer beeindruckenden Geschwindigkeit“, beobachtet Uhl. Dennoch sollten die Marktakteure die absoluten Zahlen nicht aus dem Blick zu verlieren. So ist TV nach Uhls Darstellung trotz rückläufiger Reichweite immer noch ein starkes Medium, wenn es um Reichweite, Geschwindigkeit und Wirkung geht. Außerdem lässt sich Bewegtbild auf dem großen Bildschirm längst nicht mehr auf lineares TV reduzieren, sondern umfasst auch Streaming-Anbieter wie Netflix oder Prime Video. Die haben für Uhl den Vorteil, dass sie inzwischen auch mit Werbung belegbare Angebote aufweisen, die eine hohe Werbewirkung erzielen, höher als die von Social Media und teilweise auch von Youtube.
Für Bachem tragen die werbefinanzierten Dienste von Netflix und Amazon dagegen nur zur Zersplitterung des Werbemarktes bei, weil ihre Nutzung überschaubar ist. Auch sonst sieht er die Verschiebung ins Digitale eher kritisch, schließlich wächst mit ihr das Risiko, dass sich die Menschen nicht mehr wirkungsvoll genug erreichen lassen, da manchen Kanälen die kommunikative Durchschlagskraft fehlt, wie Bachem moniert. „Andererseits steigt die Abhängigkeit von digitalen Plattformen, die sich unabhängigen Leistungs- und Wirkungsnachweisen verweigern.“